Grundlagen für den Einbezug des Körpers

Auszug aus meiner Masterarbeit ‚Körperorientierte Interventionen als Ressource in der arbeitsweltlichen Beratung?‘ im Studiengang Coaching, Organisationsberatung und Supervision.

Eine Grundlage für den Einbezug des Körpers in die arbeitsweltliche Beratung sind die Neurowissenschaften. Dabei spielt zunächst die Entwicklung des Gehirns eine wesentliche Rolle. Die erste limbische Ebene, die die biologischen Grundbedürfnisse steuert, entsteht schon in den ersten Tagen nach der Empfängnis und sie entwickelt sich bis in die ersten zwei Lebensjahre. Die mittlere limbische Ebene wird für die Bewertung von Verhalten verantwortlich gemacht und sie entwickelt sich bis zum ca. 3. Lebensjahr. Die Inhalte, die auf diesen beiden Ebenen abgelegt werden, gelten als primär unbewusst (waren niemals bewusst) und sekundär unbewusst (waren bewusst, aufgrund der infantilen Amnesie nicht erinnerungsfähig). Das bedeutet, dass man sie schwer erreichen oder verändern kann.

Die obere limbische Ebene wird für die emotionale Verarbeitung verantwortlich gemacht. Das Erleben auf dieser Ebene ist bewusst und sie entwickelt sich in der Zeit zwischen dem ca. 4. Lebensjahr bis zum ca. 20. Lebensjahr. Damit sich auf dieser Ebene etwas verändern kann, sind emotionale und soziale Anreize notwendig, die sprachliche Ebene hat hier möglicherweise keinen Einfluss.

Diese drei limbischen Ebenen steuern – intuitiv, unbewusst oder bewusst – die nichtsprachliche Kommunikation, das Fühlen, das Denken und das Handeln.

Die kognitiv-sprachliche Ebene ist bewusst, sie reift im Verlauf der Kindheit und ihre Entwicklung ist in ihrer individuellen Funktion nie abgeschlossen. Dieser Ebene wird ein geringer Einfluss auf unser Verhalten zugeschrieben – sie hat keinen Einfluss auf die untere und mittlere limbische Ebene und einen geringen Einfluss auf die obere limbische Ebene.

Diesen vier Ebenen im Gehirn – die drei limbischen Ebenen und die kognitiv-sprachliche Ebene – wird eine besondere Bedeutung in Bezug auf die Möglichkeit von Verhaltensveränderungen beigemessen und sie lassen sich funktional von anderen Bereichen unterscheiden.

Auf Basis diese vier Ebenen wird das komplexitätsreduzierende Modell der sechs psychoneuralen Grundsysteme von Gerhard Roth genutzt, um Zusammenhänge deutlich zu machen.

Die Basis für eine gute Persönlichkeitsentwicklung und für Resilienz bilden drei der sechs psychoneuralen Grundsysteme: das Stressverarbeitungs-, das Selbstberuhigungs- und das Bindungssystem. Diese drei Systeme unterliegen vorgeburtlichen und frühen Einflüssen, sie werden von der genetischen Ausstattung, den frühen Erfahrungen und sozialen Bindungen geprägt. Diese drei Systeme können später nicht oder nur sehr schwer verändert werden. Das bedeutet für die arbeitsweltliche Beratung, dass mit den Ausprägungen dieser Systeme gearbeitet werden muss, da man sie in diesem beraterischen Kontext nicht verändern kann.

Die anderen drei psychoneuralen Grundsysteme – das Bewertungs-, das Impulshemmungssystem und das System der Risikobewertung – entwickeln sich auf der Grundlage und unter Einfluss der zuvor genannten Systeme. Bei diesen Grundsystemen spielen auch die Gene eine wichtige Rolle, sie werden aber auch durch spätere Erfahrungen geprägt und entwickeln sich z.T. ein Leben lang. Auf diese drei psychoneuralen Grundsysteme kann in der arbeitsweltlichen Beratung eingewirkt werden.

Handlungen und somit auch Verhalten werden von unterschiedlichen Instanzen angetrieben. Die neurowissenschaftliche Sicht auf diese Instanzen kann kurz zusammengefasst wie folgt dargestellt werden: die erste Instanz ist unbewusst (untere und mittlere limbische Ebene) – wir handeln und wissen nicht warum –, die zweite Instanz ist bewusst (obere limbische Ebene – wir haben ein Bauchgefühl –, und die dritte Instanz, die ebenfalls bewusst ist (kognitiv-sprachliche Ebene) – wir meinen, zu wissen und zu verstehen.

Der Antrieb für unbewusstes Handeln wird in der Motivationspsychologie ‚Motiv‘ genannt. Bewusste Gründe für Handlungen werden hier ‚Ziele‘ genannt. Wenn sich der unbewusste und der bewusste Antrieb für Handlungen decken, entstehet Konsistenz. D.h. die Bedürfnisse werden befriedigt und der Mensch ist zufrieden. Es kann aber auch sein, dass es eine Nichtvereinbarkeit (Diskordanz) oder eine Nichtübereinstimmung (Inkongruenz) der bewussten und unbewussten Anteile, der Ziele und Motive, gibt. In diesen Fällen, fühlen sich Menschen unwohl oder werden sogar krank. Diese Situationen führen ggf. zu einer arbeitsweltlichen Beratung und dann geht es darum, die unbewussten und bewussten Antriebe zu erkennen. Hier stellt sich dann die Frage, wie man einen Zugang zu den unbewussten Anteilen finden kann. Wie in den Ausführungen deutlich wurde, steuert das Unbewusste – das früh in den limbischen Ebenen entwickelt wird – die Persönlichkeitsentwicklung und das Verhalten stärker als die bewussten Prozesse. Da das Unbewusste über die kognitiv-sprachliche Ebene nicht zu erreichen ist, braucht es andere Möglichkeiten für die arbeitsweltliche Beratung.

Mit der Arbeit über und mit dem Körper kann Unbewusstes bewusst gemacht werden
– das ist der zweite Blickwinkel: Erklärungen und Begründungen der Körperpsychotherapie. Wobei es nicht darum geht, Körperpsychotherapie für den Einsatz in der arbeitsweltlichen Beratung anzupassen.

Die Grundannahmen der Körperpsychotherapie sind, dass Erfahrungen im Körper gespeichert werden, dass körperliches Erleben die Grundlage von subjektiven Erfahrungen ist, dass Möglichkeiten und Schwierigkeiten der psychischen Strukturierungen über den Körper sichtbar werden und dass über den Körper ein Zugang zu den unbewussten Erinnerungen möglich ist. In der Körperpsychotherapie wird der Körper theoretisch und praktisch berücksichtigt, d.h. die Körperwahrnehmung, der Körperausdruck und die körperliche Interaktion wird in das Beratungssetting miteinbezogen. Es geht um die Beantwortung der Fragen 'Wie fühlt es sich an?', 'Was spüren Sie?'.

Die Arbeit mit dem Erleben in dem Beziehungsraum zwischen Klientin und Therapeutin bildet den Rahmen für die körpertherapeutische Arbeit. Dies kann auf die arbeitsweltliche Beratung übertragen werden. Auch in dieser Beratungsform kann mit dem Erleben in dem sicheren Raum der Arbeitsbeziehung an Themen aus dem arbeitsweltlichen Kontext gearbeitet werden. Wenn die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse hinzugezogen werden, ist die Arbeit mit und über den Körper eine Möglichkeit, um mit den unbewussten Anteilen, die sich im Verhalten zeigen, zu arbeiten.

Dabei werden körperpsychotherapeutische Interventionen nicht 1:1 auf die arbeitsweltliche Beratung übertragen. Zum einen, weil Psychotherapie ein Heilverfahren für psychische Erkrankungen ist und arbeitsweltliche Beratung sich an gesunde Menschen richtet. Dementsprechend gibt es unterschiedliche Ausbildungshintergründe für diese beiden Berufsstände. Und zum anderen hat arbeitsweltliche Beratung i.d.R. ein klares Ziel, das erreicht werden soll; dort kann der Aspekt des offenen Prozesses der Körperpsychotherapie einbetten, aber der offene Prozess ist nicht der führende Rahmen. Daher müssen Interventionen ausgewählt, angepasst bzw. entwickelt werden, damit sie in der arbeitsweltlichen Beratung eingesetzt werden können.

Eine Möglichkeit, körperliche Interventionen in der arbeitsweltlichen Beratung einzusetzen, ist die Achtsamkeitspraxis. Es wurde gezeigt, dass Achtsamkeit wissenschaftlich belegt ist, sich in das hier vorgestellte neurobiologische Modell einordnen lässt und auch mit den körperpsychotherapeutischen Grundannahmen vereinbar ist.

Ebenso sind Klopfmethoden weitere Möglichkeiten, um in der arbeitsweltlichen Beratung, körperorientiert zu arbeiten. Auch die Wirkung dieser Methoden sind wissenschaftlich bewiesen und erfüllen die hier angesetzten Kriterien.

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